Übungen

Ein Schritt nach vorn

„Alles ergibt sich aus den Rechten der andern und meiner niemals endenden Pflicht, sie zu respektieren.“

Emmanuel Lévinas 
französisch-litauischer Philosoph (1906–1995)

Überblick

Themen
  • Diskriminierung und Intoleranz
  • Armut
  • Menschenrechte allgemein
Komplexität

Stufe 2

Gruppengröße

10–30 Personen

Zeit

60 Minuten

Überblick

In dieser Übung nehmen die Teilnehmer*innen verschiedene Rollen ein. Wie schnell sie vorankommen, hängt von ihren gesellschaftlichen Privilegien und Benachteiligungen ab.

Fokus
  • Das Recht auf Gleichheit an Würde und Rechten
  • Das Recht auf Bildung
  • Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard
Ziele
  • Für die ungleiche Chancenverteilung in der Gesellschaft sensibilisieren
  • Fantasie und kritisches Denken entwickeln
  • Empathie für Menschen fördern, denen nicht so viele Ressourcen zur Verfügung stehen
Materialien
  • Rollenkarten
  • ein offener Platz (Korridor, großer Raum oder Gelände im Freien)
  • gegebenenfalls Kassettenrekorder oder CD-Player und sanfte, entspannende Musik
  • einen Hut oder einen Korb, aus dem Zettel gezogen werden
Vorbereitung
  • Lesen Sie die Anleitung. Gehen Sie die Liste der „Situationen und Ereignisse“ durch und passen Sie sie für Ihre Gruppe an.
  • Fertigen Sie pro Person 1 Rollenkarte an. Kopieren Sie das (gegebenenfalls angepasste) Blatt, schneiden Sie die Streifen aus, falten Sie sie zusammen und legen Sie sie in den Hut.

Durchführung

Anleitung

  1. Schaffen Sie mit ruhiger Hintergrundmusik eine entspannte Atmosphäre. Oder bitten Sie einfach um Ruhe.
  2. Alle Teilnehmer*innen (TN) ziehen eine Rollenkarte aus dem Hut. Sie sollen sie für sich behalten und niemandem zeigen.
  3. Alle setzen sich hin und lesen ihre Rollenkarte genau durch. Geben Sie den TN die Möglichkeit ihre Rollenkarten zu tauschen, falls diese nah an ihrer eigenen Identität sind oder sie sich unwohl mit ihrer Karte fühlen.
  4. Nun bitten Sie die TN, sich in die Rolle hineinzuversetzen. Um ihnen dabei zu helfen, lesen Sie einige der folgenden Fragen laut vor. Machen Sie nach jeder Frage eine Pause, damit alle Zeit haben, sich ein Bild von sich selbst und ihrem Rollenleben zu machen:
    1. Wie war Ihre Kindheit? In was für einem Haus haben Sie gewohnt? Was für Spiele haben Sie gespielt? Was haben Ihre Eltern gearbeitet?
    2. Wie sieht Ihr Alltag heute aus? Wo treffen Sie sich mit Freund*innen? Was machen Sie morgens, nachmittags, abends?
    3. Wie sieht Ihr Lebensstil aus? Wo leben Sie? Wie viel verdienen Sie im Monat? Was machen Sie in Ihrer Freizeit? Was machen Sie in den Ferien?
    4. Was finden Sie aufregend und wovor fürchten Sie sich?
  5. Bitten Sie dann die TN, sich nebeneinander in einer Reihe aufzustellen.
  6. Erklären Sie, dass Sie nun eine Liste von Situationen und Ereignissen vorlesen werden. Jedes Mal, wenn die TN eine Aussage mit „Ja“ beantworten können, sollen sie einen Schritt nach vorn machen. Wenn nicht, sollen sie bleiben, wo sie sind.
  7. Lesen Sie die Situationen eine nach der andern vor. Machen Sie jedes Mal eine Pause, damit die TN ihre Schritte nach vorn gehen können.
  8. Am Ende sollen sich alle ihre Schlussposition vergegenwärtigen. Geben Sie ihnen ein paar Minuten Zeit, aus ihrer Rolle zu schlüpfen, bevor sie im Plenum zusammen kommen.

Nachbereitung und Auswertung

Fragen Sie die TN zu Beginn danach, wie sie die Übung erlebt und wie sie sich gefühlt haben. Dann sprechen Sie über aufkommende Fragen und Lernergebnisse.

  • Was für ein Gefühl war es, einen Schritt vorwärts zu kommen – beziehungsweise zurückzubleiben?
  • Wann haben diejenigen, die häufig einen Schritt nach vorn machten, festgestellt, dass andere nicht so schnell vorwärts kamen wie sie?
  • Hatte jemand irgendwann das Gefühl, dass die eigenen grundlegenden Menschenrechte missachtet wurden?
  • Kann jemand die Rollen der Personen, die ganz vorne stehen, erraten? (In dieser Phase dürfen die Rollen bekanntgegeben werden.)
  • Wie leicht oder schwer war es, die verschiedenen Rollen auszufüllen? Wie haben sie sich die dargestellte Person vorstellen können? Haben sie sich dabei an Stereotypen orientiert? Welche eigenen Vorannahmen über Personen wurden dabei sichtbar?
  • Wenn Sie Rollenkarten mehrfach ausgegeben haben: Stehen die Personen mit der gleichen Rollenkarte auf der gleichen Höhe? Warum (nicht)?
  • Spiegelt die Übung die Gesellschaft wider? Inwiefern?
  • Welche Menschenrechte werden in den einzelnen Rollen verletzt? Können manche TN sagen, dass ihre Menschenrechte nicht respektiert wurden oder dass sie keinen Zugang zu Menschenrechten hatten?
  • Welche Schritte müssten als Erstes unternommen werden, um gegen die Ungleichheiten in der Gesellschaft anzugehen?

Tipps für die Moderation

Einführung

Wenn Sie diese Übung im Freien durchführen, müssen Sie besonders bei großen Gruppen dafür sorgen, dass die TN Sie hören können. Vielleicht kann die Co-Moderation die Aussagen weitergeben.

Am Anfang, wenn es darum geht, sich ein Bild von der Rolle zu machen, können manche TN sagen, dass sie zu wenig über das Leben der Person wissen, die sie darstellen sollen. Sagen Sie ihnen, dass Sie es so gut machen sollen, wie sie können.

Die Stärke dieser Übung liegt in der Wirkung beim Anblick des wachsenden Abstands zwischen den TN, besonders zum Ende hin, wenn die Distanz zwischen denen, die viele Schritte nach vorn machen, und denen, die wenig gehen, sehr groß wird.

Bei der Auswertung ist es wichtig herauszuarbeiten, woher die TN ihr Wissen über die Figur haben, die sie verkörperten. Durch persönliche Erfahrung oder durch andere Informationsquellen (Nachrichten, Bücher, Witze)? Sind sie sicher, dass ihre Informationen über und ihr Bild von den Figuren stimmen? Machen Sie deutlich, dass sich Personen durch viel mehr auszeichnen als durch wenige Merkmale, wie sie auf den Rollenkarten stehen. So können Sie zur Diskussion stellen, wie Klischees und Vorurteile funktionieren. Sie können Rollenkarten auch mehrfach ausgeben. Vermutlich werden die TN mit der gleichen Rollenkarte diese verschieden füllen und entsprechend unterschiedlich viele Schritte nach vorne gehen. Dies eignet sich besonders, um mit der Gruppe über eigene Stereotype und Vorannahmen zu sprechen.

Diese Aktivität ist besonders wichtig, um die verschiedenen Rechte (etwa bürgerliche politische und wirtschaftliche/soziale/kulturelle Rechte) und den Zugang zu ihnen miteinander in Beziehung zu setzen. Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht nur ein Problem formaler Rechte – auch wenn Letzteres beispielsweise für Geflüchtete und Asylsuchende ebenso gilt. Das Problem liegt oft eher darin, ob diese Rechte überhaupt für Betroffene zugänglich beziehungsweise umgesetzt sind.

Diese Übung stammt von Els van Mourik (Something Else) und anderen.

Varianten

Die erste Variante verleiht der Symbolik der Benachteiligung eine zusätzliche Dimension. Sie brauchen ein langes Stück von einem sehr dünnen Band oder einer Luftschlange, das leicht reißt. Wenn sich die TN an der Startlinie aufgestellt haben, gehen Sie an ihnen vorbei, wickeln Sie das Band nach und nach ab und bitten Sie sie, es festzuhalten, sodass schließlich alle miteinander verbunden sind. Wenn sie dann einen Schritt nach vorn machen sollen, stehen manche vor dem Dilemma, ob sie vorwärtsgehen und das Band zerreißen sollen oder nicht. Möglicherweise werden auch die Zurückbleibenden den anderen vorwerfen, das Band zerrissen zu haben. Daher müssen Sie vielleicht an die Regel erinnern, dass sie jedes Mal, wenn sie eine Aussage mit ‚Ja‘ beantworten können, einen Schritt nach vorn machen und andernfalls bleiben sollen, wo sie sind.

Zweite Variante: Lassen Sie die erste Runde wie beschrieben ablaufen und schließen Sie dann eine zweite Runde an, bei der manchmal unterbewertete Kompetenzen ans Licht kommen können. Die TN behalten ihre Rollen. Lesen Sie in der zweiten Runde vorbereitete Aussagen vor, die sich auf mögliche Stärken beziehen, über die benachteiligte Menschen gerade aufgrund ihrer Situation verfügen. Machen Sie den TN deutlich, dass es in dieser Variante weniger um die Wahrnehmung von Menschenrechten geht, sondern darum, nicht nur gesellschaftliche Teilhabebarrieren aufzuzeigen, sondern auch Kompetenzen von strukturell benachteiligten Personen zu erkennen. Zum Beispiel:

  • Sie beherrschen mehr als zwei Sprachen und benutzen sie täglich.
  • Sie haben eine körperliche oder psychische Krankheit überwunden. Dadurch haben Sie an Selbstvertrauen und innerer Stärke gewonnen.
  • Sie sind in einem abgelegenen Dorf aufgewachsen und begreifen daher zutiefst, in welche ökologische Krise die Welt durch den Klimawandel gerät.
  • Sie wissen, wie man von wenig Geld leben kann und wo Sie die besten Schnäppchen finden.

Diese Methode lässt sich für Ungleichheiten in vielen anderen Bereichen anpassen, zum Beispiel für den Zugang zu Wasser, die Teilhabe am politischen oder sozialen Leben oder für Benachteiligung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit. Wenn Sie ein anderes Thema behandeln, müssen Sie andere Rollen und Aussagen entwickeln. Achten Sie in diesem Fall auf möglicherweise sensible Rollen und Aussagen.

Eine Möglichkeit, mehr Ideen zu bekommen und das Verständnis der TN zu vertiefen, besteht darin, zunächst in Kleingruppen zu arbeiten und die Ideen dann im Plenum vorzustellen. Dabei ist es fast unumgänglich, dass mehrere Personen bei der Moderation zusammenarbeiten. Probieren Sie diese Methode aus, indem Sie den zweiten Teil der Befragung – nachdem die Rollen bekanntgegeben wurden in Kleingruppen durchführen. Bitten Sie die TN zu erforschen, wer in ihrer Gesellschaft mehr und wer weniger Chancen und Möglichkeiten hat und welche Schritte unternommen werden können und sollten, um gegen die Ungleichheiten
anzugehen.

Vorschläge zur Weiterarbeit

Je nachdem, in welchem gesellschaftlichen Kontext Sie arbeiten, können Sie Vertreter*innen von Selbstorganisationen zu einem Gespräch in die Gruppe einladen. Befragen Sie sie, mit welchen Problemen sie sich derzeit befassen und wie Sie und andere Menschen sie dabei unterstützen können. Eine solche persönliche Begegnung ist auch eine Gelegenheit, Vorurteile oder Klischees zu überprüfen,
die in der Diskussion aufgekommen sind.

Wenn die Gruppe mehr über den ungleichen Zugang zu Bildung weltweit und die Maßnahmen zur Beseitigung dieser Probleme wissen möchte, dann können Sie mit der Übung „Bildung für alle?“ fortfahren.

Wenn sich die Gruppe mehr Zeit nehmen will, um Klischees zu untersuchen, die sie über die Figuren in „Ein Schritt nach vorn“ identifiziert haben, dann können die Teilnehmer*innen anhand der Übung „Euro-rail à la carte“ im Bildungspaket “all different – all equal“ des Europarats ermitteln, mit wem sie am liebsten beziehungsweise am allerwenigsten im gleichen Waggon reisen würden.

Ideen zum Handeln

Greifen Sie die Ideen zur Weiterarbeit auf. Erkunden Sie, wie Sie und andere junge Menschen Gruppen und Organisationen unterstützen können, die sich für kulturelle oder soziale Minderheiten einsetzen, und setzen Sie die Ideen in die Praxis um.

Arbeitsblätter

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